Ungläubiges Staunen

Dass in China guter Service großgeschrieben wird, ist nichts Neues. Doch mit der zunehmenden Verbreitung digitaler Medien und Endgeräte scheint das asiatische Selbstverständnis noch einmal eine neue Qualität zu erreichen. Grenzenlose Mobilität und eine ständige Verfügbarkeit aller Arten von Dienstleitungen, die sich bequem per Smartphone buchen und bargeldlos bezahlen lassen, gehören für viele Chines*innen selbstverständlich zu ihrem Alltag. Alles muss einfach, schnell, verfügbar und vor allem „convenient“ (fangbian 方便) sein.

Die unterschiedlichen Standards bemerkt man zum Beispiel, wenn man gerade selbst aus Asien zurückkehrt oder wenn man chinesische Student*innen beobachtet, die zum ersten Mal deutschen Boden betreten. Mit leuchtenden Augen kommen viele von Ihnen zunächst am Flughafen an. Bestens ausgebildet in der deutschen Sprache haben sie bereits in der Schule von der deutschen Ingenieurskunst gehört, von Deutschlands ebenso langer wie beeindruckender Geschichte im Bereich der Künste und von den vielen Nobelpreisträgern, welche die deutsche Wissenschaft hervorgebracht hat. Deutschland ist für sie ein modernes Land.

Doch schnell fragen sie sich, warum hier einige Dinge so umständlich sind. Vergebens suchen sie nach einem klimatisierten Hochgeschwindigkeitszug vom Flughafen in die Stadt und das Internet auf der Fahrt bricht trotz deutscher SIM-Karte immer wieder ab. Wenn es um den Bereich der Digitalisierung im Alltag geht, weicht die anfängliche Euphorie meist einer gewissen Ungläubigkeit. Liebgewonnene Services, die sich in China über das Smartphone abwickeln lassen und die beinahe unbemerkt das tägliche Leben vereinfachen, sind plötzlich nicht mehr verfügbar.

Digitale Annehmlichkeiten im chinesischen Alltag

Ein Beispiel dafür, wie bestimmte Alltagssituationen digital unterstützt in China ablaufen, ist das Essengehen. Dazu muss man zunächst wissen, dass kaum noch Chines*innen ein Restaurant besuchen, ohne vorher nicht ausgiebig die zahlreichen Kommentare und Bilder auf der bekanntesten Food-App Meituan Dianping (美团点评) studiert zu haben. Die App zeigt Restaurantbewertungen ähnlich wie ihr westliches Äquivalent Yelp. Darüber hinaus bietet sie Rabattaktionen für bestimmte Zeiten, eine Reservierungsfunktion für Gruppen und neuerdings auch die Möglichkeit, Essen nach Hause liefern zu lassen und Übernachtungen in Hotels zu buchen. Wer als Restaurantbetreiber nicht auf Meituan Dianping zu finden ist, existiert nicht im chinesischen digitalen Raum.

Da das Essengehen traditionell eine hervorgehobene Bedeutung in der chinesischen Kultur besitzt, scheint es so, als wären gerade in diesem Bereich die größten Anstrengungen unternommen worden, um das Erlebnis so angenehm und einfach wie möglich zu gestalten. Indem man als Gast den Barcode an der Tischecke einscannt, erhält man die Speisekarte direkt auf sein Smartphone. Über das Handy lässt sich anschließend auch die Bestellung aufgeben, welche unmittelbar den Koch in der Küche erreicht und innerhalb kürzester Zeit an den – nun bereits mobil bezahlten – Tisch gebracht wird. Direkte Kommunikation oder Wartezeit sind kaum notwendig.

Nach dem Essen wird der Heimweg als Taxifahrt via Didi Chuxing (滴滴出行) App gebucht und mit Alipay (Zhifubao 支付宝) bezahlt. Die genaue Position der Mitfahrgelegenheit lässt sich dabei sowohl vor als auch während der Fahrt live auf einer Karte verfolgen, damit der Kunde stets informiert ist und seine Zeit optimal einteilen kann.

In China gilt: Wo bestimmte Prozesse digitalisiert werden können, geschieht dies auch. Hier zeigt sich einerseits eine neugierige Haltung vieler Chines*innen gegenüber technischen Möglichkeiten, andererseits die Findigkeit junger chinesischer Unternehmer*innen im Entdecken von ungenutztem Potential disruptiver Geschäftsmodelle. Die Digitalisierung des Alltags in China ist dabei sehr stark Kunden- und Serviceorientiert und darauf ausgerichtet, das Lebensgefühl im Land der Mitte so annehmlich wie möglich zu gestalten.

Digitalisierung von China lernen?

Man mag davon halten, was man möchte (Stichwort Handykonsum und Datenschutz) – das Bild von Deutschland als das Land der Ideen, als das der Dichter und Denker wird nicht ausreichen, um Chines*innen auch in Zukunft von Deutschland schwärmen zu lassen. Wahrscheinlich ist es ratsam, bald umzudenken und in einigen Bereichen von China zu lernen. Es gilt, das aufzugreifen, was wirklich fortschrittlich ist und den Alltag vieler Menschen erleichtern kann, damit Deutschland und Europa für Chines*innen nicht zu einer Art Disneyland werden, in dem sie sich ansehen können, wie das gute alte Leben früher einmal war.


2 Comments

Mathias Baresel · 22. Juni 2020 at 11:39

Sehr schöner Artikel:-)

    HanJed · 22. Juni 2020 at 13:32

    Danke!

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