Warum wir digitale Chinakompetenz benötigen

Die Digitalisierung der chinesischen Wirtschaft und Gesellschaft schreitet rasend schnell voran. Begibt man sich als Europäer in die großen chinesischen Metropolen, kommt es einem bisweilen so vor, als sei man in einer nahen Zukunft gelandet. Unzählige digitale Anwendungen prägen den Alltag vieler Chines*innen im Privaten wie im Beruflichen.

Aufgebaut haben die neue digitale Welt Firmen, die in Deutschland noch wenig bekannt sind. Tencent, Alibaba und Baidu liefern sich einen Dreikampf an der Spitze der aufstrebenden Tech-Giganten aus China. Bemerkenswert sind vor allem die von ihnen erschaffenen digitalen Eco-Systems. Diese ermöglichen es, alle Arten von Dienstleistungen und Services zu buchen und anzubieten, ohne dabei das System selbst verlassen zu müssen. Die ursprünglich als Messenger konzipierte App WeChat (微信) vereint unter anderem Funktionen vom westlichen Facebook, Whatsapp und Paypal und bietet somit vermeintlich „das ganze Leben in einer App“.

China – neues Zentrum des technologischen Fortschritts

Beinahe unbemerkt hat sich das Zentrum von Innovation und Fortschritt nach Asien verschoben. Der einstmals schlafende Riese ist erwacht. Rund 1.000 Start-Up Accelerator und etwa 5.000 Inkubatoren werden großzügig mit Staatskapital unterstützt. Hotspots befinden sich in Peking, Hangzhou, Shenzhen, Dalian und Shanghai. Das Technikviertel Zhongguancun (中关村) im Nordwesten Pekings mit seiner Hauptstraße, dem Innoway, gilt mittlerweile als Silicon Valley des Ostens. Im letzten Jahr entstand alle 3,8 Tage ein neues Unternehmen mit einem Marktwert von über einer Milliarde USD. Insgesamt haben bereits mehr als 200 der sogenannten Unicorn-Unternehmen das Licht der Welt erblickt. Kein anderes Land geht derzeit konsequenter in Richtung Zukunft. 

Chinesische Kinder wachsen mit neuen Technologien auf und erwerben so früh digitale Kompetenzen.

Ein Beispiel für die rasante Entwicklung ist die Abwesenheit von Bargeld im Alltag – selbst am Gemüsestand um die Ecke. Bezahlen per Handy ist längst zum alleinigen Standard geworden. Viele Chinesen besitzen keine Kreditkarte, verfügen aber über Alipay oder WeChat Pay, um darüber ihre monetären Transaktionen zu tätigen. Selbst Mikrobeträge können übertragen werden – sicher und kontaktlos. Das Scannen von Barcodes mit dem Smartphone hat dabei neue Möglichkeiten mit sich gebracht wie das „ticketlose“ Reisen, den Eintritt zu Veranstaltungen und das Bezahlen im Supermarkt auch ohne Kassiererin. Der Face-Scan, eine Technologie, in der China weltweit Vorreiter ist, wird in dieser Hinsicht wohl der nächste Schritt sein.

Das Soziale Bonitätssystem

Was im Westen in jüngster Zeit für Aufsehen gesorgt hat, ist das Soziale Bonitätssystem, das 2020 offiziell starten sollte. In diesem System erhält jeder Bürger eine festgelegte Punktzahl und kann diese durch gutes Verhalten wie finanzielle Zuverlässigkeit oder gemeinnützige Dienste (z.B. Blutspenden) verbessern. Bei Fehlverhalten wie dem Überqueren einer roten Ampel oder dem Aussetzen von Kreditzahlungen kann die soziale Bonität jedoch auch sinken. Berechnet vom komplexen Algorithmusmix der Regierung kann dies ganz reale Konsequenzen für die Betroffenen haben. Schon jetzt dürfen einige chinesische Topmanager, die durch krumme Geschäfte aufgefallen sind, China nicht mehr ohne weiteres verlassen und müssen im Inland mit der langsameren Bahn statt mit dem Flugzeug reisen.

Digitale Chinakompetenz als notwendiger Schritt

Bei all diesen Themen reichen herkömmliche Ansätze von Chinakompetenz nicht aus, um ein Verständnis von und eine angemessene Haltung gegenüber dem Reich der Mitte zu gewinnen und einzunehmen. Es bedarf zusätzlich einer Digitalkompetenz, welche die aktuellen, chinaspezifischen Eigenarten berücksichtigt und angemessen reflektiert. Die Rede ist von digitaler Chinakompetenz. Sie ist die Grundlage dafür, sich auch im „digitalen chinesischen Raum“ sicher zu bewegen und diesen für sich erfolgreich zu gestalten.


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